Unsere Nachbarn motorisieren sich

Meine Kindheit verbrachte ich in den 40er und 50er Jahren in einem hufeisenförmigen Genossenschaftswohnblock im Zürcher Stadtkreis 4, der an die Anwand-, Schreiner- und Kanzleistrasse angrenzt. Meine frühsten Erinnerungen reichen zurück bis ins Jahr 1947 als mein Grossvater starb. An der Schreinerstrasse parkierte damals nur ein einziger PW. Der Opel Kadett des Gipsermeisters Germann. Der Gipsermeister avancierte aber bald zu einem grünen Kaiser Frazer. Damals wie heute eine Rarität. Dem Kaiser Frazer folgte ein amerikanischer Ford Buckel und danach ein Chevi BelAir. Die Ära des Chevi reichte bis die Mitte der 60er Jahre als ich bereits meine erste Honda fuhr. Eines Sonntagnachmittags kämpfte ich mit meinem 250 Kubik Töff  eine Kolonne nieder, die sich gemächlich in Richtung Stein am Rhein bewegte. An der Spitze fand ich Germann mit Hut und Stumpen in seinem Chevi. Souverän und gelassen führte er die Kolonne an. Seine Autos waren für ihn Arbeitstier und Mittel zur sonntäglichen Auffahrt.

Ein weiterer Hausbewohner, der sich schon früh motorisierte, war der Zimmerherr von Frau Billeter im obersten Stock. Er leistete sich eine Zweitakt Jawa, die verschwand als er seine Vermieterin heiratete. Für mich als Kind völlig überraschend, wurde ich plötzlich angehalten Frau Billeter mit Frau Cattaneo zu begrüssen. Die Heirat brachte der unglücklichen Frau kein Glück. Davon wurden wir in späteren Jahren beredte Zeugen, hatten sie doch die Wohnung direkt über uns.

Mein Held war der Junggeselle von nebenan. Herr Messmer war der stolze Besitzer einer 500er BMW. Des Alleinseins müde, heiratete er in leicht vorgeschrittenem Alter doch noch. Wieso er die schöne BMW einem Zündapp Bella Roller opferte, konnte ich nie verstehen. Die Zündapp blieb Hobby wie seinerzeit die BMW. Davon zeugten die sonntäglichen Ausflüge die Messmer mit seiner Angetrauten häufig unternahm. Zur Arbeit in die Zürcher Innenstadt bediente sich der Maschinensetzer eines gewöhnlichen Velos. Kam er mittags und abends von der Arbeit, fuhr er in den Hof, läutete zweimal die Veloglocke und schaute hinauf zum 3. Stock, wo sich seine Frau kurz am Küchenfenster zeigte. Somit war die Welt in Ordnung.

Schuhmacher Junghans, ein grosser hagerer Mann, mit Werkstatt an der Anwandstrasse fuhr ein Gespann, genau so wie Bäcker Schweizer im nächsten Block. An Regentagen erlaubte uns Junghans den Aufenthalt in seiner Werkstatt. Schon als Primarschüler wussten wir genau wie das Tagewerk von Automechaniker, Maler, Polsterer Schreiner und Motorradmechaniker aussah. Ihre Werkstätten waren stets offen und man arbeitete die halbe Zeit auf dem Trottoir oder am Strassenrand. 

Junghans bewegte sein Gespann per Britischer Ariel während sich Bäcker Schweizer auf eine US Indian verliess, um seine Brote auszutragen. Mit Schweizer hatten wir keinen Kontakt. Unser Bäcker hiess Ledermann und befand sich an der Rolandstrasse, unweit der bekannten Langstrasse. Herr Ledermann verteilte seine Brote per Velo mit einer riesigen Chrätze auf dem Rücken.

Maurer Müller von der Kanzleistrasse war ein weiterer Genossenschafter und Motorpionier. Ein untersetzter vierschrötiger Mann mit weniger Haaren auf dem Kopf als ich heute noch habe. Als motorisiertem Untersatz diente ihm eine kleine Drehbank, sprich BMW R 25. Diese 250 Kubik BMW diente fast ausschliesslich sonntäglichen Ausfahrten des Ehepaars Müller. Frau Müller, lang und dürr, thronte auf dem Sozius mit einem grossen Blumenstrauss im Arm, wenn die beiden jeweils mit verbrannten Gesichtern von einem hochsommerlichen Ausflug heimkehrten.

Kleine Anekdote zu Maurer Müller: Als ein Mädchen seinen Fuss in einem Bock zum Teppichklopfen einklemmte, erschien Müller kurzentschlossen mit Fäustel und Spitzmeissel, um den besagten Fuss zu befreien. Anderntags reparierte er die beschädigte Stelle mit Zement. Die Stelle mit dem neuen Zement erinnerte uns noch jahrelang an Mariannes Missgeschick.

Mitte der 50er Jahre zog die Motorisierung bei uns ein. Vater leistete sich seine erste Lambretta. Dies auf anraten seines älteren Bruders, der bereits seit einigen Jahren Lambretta fuhr. Er warnte eindringlich vor der einseitigen Gewichtsverteilung der Vespa, deren Motor nicht mittig eingebaut war. Die führte zu einseitigem Hinterradverschleiss, wie ich etwas später bei Herrn Rossés Vespa selbst feststellen konnte. Es gab ein paar wenige gemeinsame Ausfahrten mit meinem Onkel und Herrn Rossé. Bei einer dieser Ausfahrten musste ich meinen Vater anschieben. Als das Ding ansprang, gab er Gas und düste davon, ehe ich noch aufspringen konnte. Herr Rossé, der das Manöver abgewartet hatte, nahm mich auf den Sozius. Mein Vater traute seinen Augen nicht, als er mich etliche Kilometer später auf der Vespa bemerkte.

Wie üblich zu jener Zeit, trugen wir bei diesen Ausflügen weder Helme noch andere Schutzbekleidung. Im Verkauf waren wohl blecherne Helme und Kunstledermäntel, doch man schämte und scheute sich damit aufzufallen.

Mein Vorbild als Kind war weder James Dean noch Elvis, sondern Donat, der im selben Haus wohnte und drei Jahre älter war. Als Schüler besass er ein Luftgewehr und später als Lehrling ein Velo mit Cyclemaster Hilfsmotor. Der Cyclemaster war eine geniale britische Konstruktion. Der ganze Motor samt Benzintank befand sich im Hinterrad. Der Motorisierungsboom setzte ein, unhaltbar. Andere Genossenschafter beschafften sich Mosquito Hilfsmotoren, NSU Quicklys, oder gar ein Kreidler Florett oder ein rennmässig getrimmtes 50 ccm Alpino Moped.

Ein Unbekannter an der Engelstrasse bewegte nun eine „schwere“ 500er Sunbeam S8. Auch dieser Unbekannte trug nie einen Helm. Seine ganze „Töffausrüstung“ bestand aus einem grau-blauen Regenmantel. Die Sunbeam setzte er jeweils mit einem einzigen Kick in Betrieb, wischte den Regenmantel unter seinen Hintern und rauschte erhobenen Hauptes davon. Ich hatte mich oft gewundert, wohin die Reise ging.

Noch ein paar Worte zu den freundnachbarlichen Betrieben. Dies war an der Engelstrasse die General Motors Garage Hans Fischer samt Tankstelle mit den Mechanikern Keusch und Fretz. Herr Keusch befand sich damals im besten Alter und hatte viel Verständnis für uns Bengel. Herr Fretz, vielleicht um die sechzig, war eher abweisend und barsch. Hauptsache wir konnten die Mechs an der Arbeit beobachten und kamen all die Ami Autos zu Gesicht.

Zum andern war dies der Töffladen von Peppi Pozzi an der Schreinerstrasse. Auch hier werkten die Mechs, Peppi und Mario, oft auf dem Trottoir oder am Strassenrand. In dieser Umgebung von Gilera, AJS, Matchless, Triumph und Norton muss ich mich mit dem Töffvirus infisziert haben. Als Mario, angeblich ein Cousin Peppis, den Betrieb verliess, kam Giuseppe Lucchinetti zu Peppi. 1980 mussten die Pozzis das Feld an der Schreinerstrasse räumen. Eine goldene Ära von 35 Jahren ging zu Ende.

Juli 2019, Robert Pfeffer