Rückblende – Töff-Fäscht des Motorsportclub Züri

Mit Regenwetter am Sonntagmorgen schaffe ich es erst gegen 14 Uhr ans Töff-Fäscht. Ernst Greutert begrüsst mich begeistert wie einen alten Kumpel, obwohl ich weder BMW fahre noch je Mitglied beim „Züribiet“ war. Unter den wenigen Unentwegten die noch anwesend sind befindet sich auch Ernst Häusler aus Wipkingen. Er ist der „CCM Häusler“ der jahrzehntelang britische Töffs der Marken Armstrong, CCM und Velocette importierte. Sein Däddel eröffnete 1941, mitten in der Benzinrationierung,eine Werkstatt an der Breitensteinstrasse 67 in Zürich-Wipkingen. Noch heute arbeitet Ernst täglich in dieser Werkstatt in der sich CCMs, Armstrongs und Greeves den knappen Platz teilen. Hier ist auch Däddel allgegenwärtig – wo sollte seine Seele sonst sein – wenn nicht am Ort jahrelanger gemeinsamer Arbeit mit seinem Sohn Ernst. 

Dem geneigten Leser empfehle ich den folgenden Artikel aus „der arbeitsmarkt“. Nachdruck ohne Genehmigung des Autors oder des Verlags.

Pfeffer – 2013

Ernst Häusler
Mein Tag als Motorradphilosoph

Mein Tag beginnt, sobald ich merke, dass ich noch lebe. Ist ja logisch. Ich richte mich mit einem Ruck auf, sitze dann im Bett und spüre den Signalen meines Körpers nach. Grundsätzlich brauche ich nicht mehr viel Schlaf. Auch der Wecker hat bei mir ausgedient. Ich stehe in der Regel um sieben oder sieben Uhr dreissig auf. Mit meinen 75 Jahren brauche ich ein Anlaufprogramm, bis ich voll da bin – etwa dreissig bis sechzig Minuten. Als Erstes nehme ich das übliche Rauschgift zu mir, nämlich einen Kaffee mit Milch und Zucker und dann meine Blutdrucktabletten. Anschliessend schaue ich die Nachrichten im Fernsehen und lege dabei meine Füsse auf den Tisch. Ich habe das Privileg, mir Zeit nehmen zu können, und so sitze ich ein Weilchen einfach da und gönne meinem Körper einen Moment, um ohne Druck im Hier und Jetzt vollständig anzukommen.

Ich bin der „CCM-Häusler“. Ich habe jahrzehntelang „Clews Competition Motorcycles“ und Armstrong-Maschi-nen sowie Rotax-Motoren importiert und Rennmaschinen verkauft. Ich bin früher selber passioniert Motocross-Rennen gefahren. Für diesen Sport braucht es nicht nur eine gute Kondition, sondern auch Interesse für die Motorentechnik. 1982 gründete ich den Viertakt-Club für die grossen und schweren Maschinen dieser Sportart, die mir ermöglichte, zahlreiche Länder zu bereisen. Meine Liebe – Marlise – begleitete mich überallhin. Marlise und ich lebten anfangs in wilder Ehe und waren in meiner Geburtsstätte Zürich-Wipkingen für unseren unkonventionellen Lebensstil bekannt, aber dennoch geachtet.

Morgens gehe ich meistens zur Post. Auch wenn ich pensioniert bin, sträubt sich alles in mir, wenn jemand mich als Pensionär bezeichnet. Für mich bedeutet in Pension gehen: auf der Zielgeraden ins Grab steuern. Ich leere also täglich mein Postfach und gönne mir in einem nahegelegenen „Kaff“ nochmals einen Kaffee mit einem Gipfeli und lese die Zeitung – klar, auch die Todesanzeigen. Oft denke ich über mein Leben nach und komme zum Schluss, dass ich kein Schimmelpilz, kein Fliegenpilz, kein Fusspilz, sondern einfach nur ein Glückspilz bin.

Das Mittagessen lasse ich meistens aus. Der Konsumidiotie sowie banalen Sachzwängen darf ich glücklicherweise entsagen. Zu viel Bürgerlichkeit und Unterordnung mochte ich noch nie. Ich war schon in der Sekundarschule ein „Revoluzzer“. Ich ging zum Beispiel – stolz wie ein Pfau – mit aufgekrempelten Jeans in die Schule, was zu unserer Zeit nicht erlaubt war. Die Schule überzeugte mich wenig. So schmissen sie mich aus drei Sekundarschulen raus, und ich stach mit 16 Jahren in See. Die Hochseeschifffahrt war aber absolut kein Zuckerschlecken. Mirwurde jeden Tag schlecht, und ich musste von morgens bis abends Dreck vom Deck schrubben. Ich bin kein Angepasster. Schon mein Vater war ein Linker, und auch mein Herz schlägt links. Vor allem die heutige Profitgier finde ich widerlich. Für mich sind Abzocker alles Verbrecher. Ich bin gegen die Ausbeutung der Menschen durch Menschen.

Am Nachmittag beginnt meine Zeit. Dann gehe ich in meine Werkstatt. Arbeit ist etwas Wunderbares. Arbeit umfasst Leistung gegen Entgelt in einem gesunden Verhältnis, daher arbeite auch ich nicht kostenlos. Meine Kunden sind allesamt Motocross-Insider sowie Töffliebhaber und haben eine Rennmaschine oder zumindest einen Motor von mir gekauft. Sie schätzen meine langjährige Erfahrung und dass ich über CCM-Spezialwerkzeug verfüge. Die Kundenprojekte sind stets Gemeinschaftsprojekte. Ich agiere als Coach und löse Probleme. Wer Zusammenarbeit scheut, hat bloss Angst, dass ihm etwas weggenommen werden könnte. Er teilt daher sein Wissen nicht. Ich gebe mein Wissen gerne weiter und freue mich, zu sehen, wie ein anderer besser wird. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Wenn wir gemeinsam die Maschine reinigen und demontieren, macht das einfach mehr Spass. Der Kunde wird zum Zeitzeugen der Technik von Motocross-Maschinen. Einzelne meiner Rennmaschinen sind immer noch im Einsatz. Ab und zu fühle ich mich dadurch wie Napoleon, denn mein Einfluss auf den Motocross-Sport ist auch heute noch erkennbar. Das ist toll.

Am Abend vertiefe ich mich nochmals in die Zeitung, oder ich schmökere spontan in einem Buch aus meiner grossen Bibliothek. Meistens wärmt mir meine Frau noch etwas auf, wenn ich hungrig bin. Abends drehe ich jeweils zwei Runden mit dem Hund. Schlafen gehe ich, wenn ich richtig müde bin, was in der Regel gegen zwei Uhr nachts ist. Das ist die Gunst des Alters, ich kann mich ganz nach meinen Bedürfnissen richten.

Mit Ernst Häusler, 75, sprach Melinda Melcher